Gerechtigkeit

Gerechtigkeit in ungerechten Zeiten

Die Binnenhandlung spielt „in alter Zeit, in blutiger Zeit“ (S. 15). Eine kleine Oberschicht, bestehend aus Klerus und Adel, herrscht damals über die breite Masse aus Bauern, Handwerkern und Arbeitern mithilfe eines Systems der Ausbeutung und Leibeigenschaft. Noch dazu ist die jeweilige Standeszugehörigkeit durch die Geburt bestimmt und wird von Generation zu Generation weitervererbt.

Die feudalen Machtverhältnisse spiegeln sich auch im Rechtssystem wider, das allein dem Erhalt der Herrscherprivilegien zu dienen scheint. Es gibt keine unabhängigen Gerichte, Macht und Korruption diktieren die Urteile. Wie sehr die Gesetze überholt sind, demonstriert Brecht nicht zuletzt am Fall der Grusche (vgl. Abschnitt „Der Fall der Grusche“).

Als die Fürsten einen Aufstand gegen den Großfürsten verüben, ist die Situation in Grusinien undurchsichtig und chaotisch. Der Putschversuch ist jedoch nur teilweise erfolgreich. Solange sich der Großfürst auf der Flucht befindet, sind die Machtverhältnisse noch ungeklärt: „Da war das Land im Bürgerkrieg, der Herrschende unsicher.“ (S. 91).

Der Ausnahmezustand provoziert soziale Unruhen. Ohne nennenswerte Führung treten nun auch die bisher Unterdrückten auf den Plan: „Als die Obern sich zerstritten. War’n die Untern froh […]“ (S. 96). Von einem versuchten Aufstand der Teppichweber ist die Rede (vgl. S. 84). Auch der Dorfschreiber und Möchtegern-Revolutionär Azdak wittert seine Chance. Als er sieht, dass der Richter erhängt worden ist, glaubt er an einen Aufstand des Volkes. Sogleich gibt er seine Gesinnung in einem prorevolutionären Ständchen preis (vgl. Kapitel „Analyse“, Abschnitt „Die Lieder des Azdak – Das Lied vom Großvater“).

Azdak hat sich getäuscht. Die Fürsten haben ihre Panzerreiter geschickt, welche die Teppichweber niedergeschlagen und den Richter hingerichtet haben. Im Gericht in Nukha haben nun vorerst die fürstlichen Soldaten das Sagen. Es scheint so, als seien die alten Herrscher lediglich durch neue Herrscher ersetzt worden.

Azdak, der gern einen Umsturz der Machtverhältnisse erlebt hätte, ist enttäuscht. Für einfache Menschen wie ihn wird sich nichts an der sozialen Ungerechtigkeit ändern, so glaubt er. Dann aber gerät der Dorfschreiber unverhofft in die Lage, selbst über Recht und Unrecht entscheiden zu dürfen. Er gewinnt die Sympathien der fürstlichen Panzerreiter und wird von diesen zum Richter ernannt. Dass er überhaupt auf diesen Posten kommt und noch dazu ganze zwei Jahre im Amt bleibt, hat er der anhaltenden politischen Instabilität zu verdanken.

Azdak macht nun seine ganz eigene Auffassung von Gerechtigkeit zur Grundlage seines Handelns. Er erkennt, dass in inhumanen Zeiten die Gesetze gebrochen werden müssen, um Gerechtigkeit zu erlangen. Gesetzesbruch wird damit zu einem Akt der Humanität, wie Brecht in einem biblischen Vergleich zum Ausdruck bringt: „Und so brach er die Gesetze. Wie ein Brot, daß er sie letzte.“ (S. 99).

Das Spiel mit der Justiz

Die Rolle des Richters

In Zeiten ungesicherter Machtkämpfe scheinen die Besetzungen wichtiger Ämter austauschbar: „Vor dem Schlosstor stand ein Schlächter. Am Altar ein Gottverächter.“ (S. 91). Dass die Autorität, Würde und Unantastbarkeit bedeutender Positionen nichts wert sind, zeigt Azdak, indem er das ihm zugeteilte Amt als Farce enttarnt: „Immer war der Richter ein Lump, so soll jetzt der Lump der Richter sein.“ (ebd.).

Die höchste Instanz der Gerechtigkeit wird gewissermaßen zu einer frei gestaltbaren Theaterrolle herabgewürdigt. Brechts Lust am ‚Spiel-im-Spiel...

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