Merkmale des Epischen Theaters im Werk
Ziele und Mittel des Epischen Theaters
1926 hat Brecht damit begonnen, den Begriff des »Epischen Theaters« im Kontext seiner eigenen Stücke zu verwenden. Erwin Piscator hatte die Mittel dieser Kunstform indes zwei Jahre zuvor im Zuge seiner experimentellen Inszenierungen entwickelt. Diese stammten zwar nicht von ihm selbst, sind jedoch von Alfred Döblin als „episch“ bezeichnet worden. Später stritten Brecht und Piscator darum, wer den Begriff des »Epischen Theaters« geprägt habe, und einigten sich schließlich auf die gleichzeitige Anwendung.
Zentrales Merkmal des »Epischen Theaters« ist die Verbindung aus dramatischen und erzählerischen Elementen. Das von Aristoteles geprägte und zu Brechts Zeiten nach wie vor dominierende Prinzip der Nachahmung (Mimesis) wird mit dieser modernen Kunstf…
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Aufbau und Dramaturgie
Mehrere Handlungsstränge
Im Gegensatz zur geschlossenen Form des klassischen Dramas, welche durch die Einheit von Ort, Zeit und Handlung gekennzeichnet ist, verwendet Brecht im »Kaukasischen Kreidekreis« eine offene Dramenstruktur.
Während es im klassischen Aufbau nicht mehrere Handlungen nebeneinander geben darf, zeichnet sich der »Kaukasische Kreidekreis« gerade durch den Zusammenschluss unterschiedlicher Geschichten aus. Das Drama besteht aus insgesamt drei Handlungssträngen, die auch als Fabeln bezeichnet werden können.
Zum einen legte Brecht großen Wert darauf, die Kreidekreis-Fabel durch eine zeitgenössische Perspektive zu ergänzen. Diese findet sich in der Rahmenhandlung wieder, welche in der Entstehungszeit um 1944 spielt und den Streit zweier Kolchosen um ein Tal im Kaukasus schildert. In diesem ersten Handlungsstrang mit dem Titel „Der Streit um das Tal“ wird der Erzähler Arkadi Tscheidse eingeführt, welcher seinerseits eine Geschichte präsentiert.
Die anschließende Binnenhandlung ist die ‚Geschichte in der Geschichte‘, wobei der Erzähler als bindendes Element fungiert (vgl. Charakterisierung Arkadi Tscheidse). Es findet ein Zeitsprung in eine ferne Vergangenheit statt, während der Schauplatz nahezu gleichbleibt. Die Binnenerzählung ist in zwei Teile untergliedert: Die Geschichte der Grusche und die Geschichte des Azdak. In der letzten Szene treffe…
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Gestaltungsmittel
Der Erzähler
Ziel des Epischen Theaters ist darauf ausgerichtet, den Zuschauer aus der ‚fiktiven Wirklichkeit‘ herauszureißen und ihn auf die Realität außerhalb des Bühnengeschehens aufmerksam zu machen. Damit sich das Publikum vom Dargestellten distanzieren kann, wird die Handlung durch fremde, ungewohnte Mechanismen unterbrochen. Diese Verfremdungsmittel kommen nicht nur im außergewöhnlichen Aufbau, sondern auch in der Art und Weise der Theaterinszenierung zum Tragen.
Eine Schlüsselfunktion nimmt dabei die Rolle des Sängers und Erzählers Arkadi Tscheidse ein. Durch ihn wird die Kreidekreis-Handlung zum ‚Spiel im Spiel‘. Er vermittelt zwischen der Geschichte und dem Kontext der Theateraufführung. Deutlich wird dies unter anderem dadurch, dass er sich direkt an das Publikum wendet und während seiner Darbietung in einem alten Textbuch blättert.
Zudem wollte Brecht, dass der Erzähler als Dramaturg und Regisseur in Erscheinung tritt. Er sollte die Auswahl der Szenen bestimmen, den Schauspielern ihre Einsätze geben und den spielerischen Vorgang überwachen. Tscheidses künstlerische Verantwortung für das ‚Spiel-im-Spiel‘ äußert sich bereits in dessen Ankündigung: „Wir tragen sie freilich in geänderter Form vor. Jura, zeig mal die Masken“ (S. 13).
Darüber hinaus liefert Tscheidse zu jeder Szene eine kurze Einführung, kommentiert das Geschehen und offenbart die Gedanken und Gefühle der Figuren. Nicht zuletzt wird er damit zum allwissenden Erzähler, wie er weniger für das Drama als vielmehr für den Roman prägend ist. Mit seiner Außenperspektive sorgt diese zum epischen Teil des Dramas beitragende Figur auch beim Publikum für die nötige Distanz (vgl. Charakterisierung Arkadi Tscheidse).
Titel und Songs
Ein weiteres Verfremdungsmittel sind die Szenenüberschriften, die auch als ‚Titularien‘ bezeichnet werden. Brecht ließ sie während der Vorstellung auf Bühnenvorhänge projizieren. In Anspielung auf die Verbindung zweier Kunstformen sprach er dabei von der „Literarisierung des Theaters“. Durch die Titelprojektionen werden die Möglichkeiten und Funktionen der Bühne sichtbar gemacht, sodass der Zuschauer vom Eintauchen in die Geschichte abgelenkt wird.
Ein verfremdender Effekt geht auch von den Songs aus, die Brecht in sein Drama eingebaut hat und die von Paul Dessau komponiert wurden. Sie werden sowohl vom Erzähler und seinen Musikern als auch von den beiden Hauptfiguren Grusche und Azdak vorgetragen.
Die Musik selbst sollte die Aufmerksamkeit auf den Text hinlenken und ve…
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Verhindern von Identifikation und Einfühlung
Epische Schauspielkunst
Brechts epische Theaterkunst ist vor allem durch die besondere Darstellungsform der Schauspieler gekennzeichnet. Diese sollen keinesfalls hinter ihrer Figur verschwinden, sondern stets den Akt des Spielens verdeutlichen. Auch hier gilt das Prinzip der Illusions-Brechung durch die Hervorhebung der Theatermittel. Beispiele sind der Funktionswechsel vom Darsteller zum Sänger ebenso wie die direkte Ansprache des Publikums. In beiden Fällen wird das Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle besonders offensichtlich.
Brechts Darsteller sind dazu angehalten, Distanz zur Figur zu wahren, anstatt sich in sie hinein zu fühlen. Indem der Schauspieler während des Spiels gewissermaßen ‚neben der Rolle steht‘, ist er zugleich dazu in der Lage, diese kritisch zu reflektieren. So kann beispielsweise der gesungene oder gesprochene Text mithilfe symbolischer Gesten kommentiert werden.
Sofern dem Zuschauer stets dem Schauspieler hinter der Rolle begegnet, fällt es ihm schwerer, sich mit dem dargestellten Charakter zu identifizieren. Stattdessen kann er seine Aufmerksamkeit auf die gesellschaftskritische Botschaft des Stückes richten.
Anonyme Figuren
Im Gegensatz zum klassischen Drama, das in der Regel über ein überschaubares Figurentableau verfügt, agiert im »Kaukasischen Kreidekreis« eine große Zahl an Charakteren. Diese bilden, ganz im epischen Sinne, keine Anordnung von Individuen, die über unverwechselbare Eigenschaften verfügen.
Dies wird bereits in der Namensgebung einiger Figuren deutlich, so wie beispielsweise im Vorspiel. Brecht hebt nicht die spezifischen Eigenschaften des Einzelnen hervor, sondern gr…