Entstehung und Quellen
Vorlagen für den Kreidekreisstoff
Henschke und Li-Hsing-tao
Brechts Arbeit am »Kaukasischen Kreidekreis« geht auf eine längere Entstehungsgeschichte zurück. Bevor er das Werk im Jahr 1944 beendete, unternahm der Autor mehrere Versuche, in welchen er sich der Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus annäherte.
Auf den Stoff wurde Brecht durch eine Bearbeitung des Dichters Alfred Henschke aufmerksam. Dieser hatte die Geschichte der Kreidekreisprobe einem chinesischen Singspiel aus dem 14. Jahrhundert entnommen, das bereits ins Französische und Deutsche übersetzt worden war. Henschke, der den Spitznamen Klabund trug und eine Vorliebe für die fernöstliche Kultur hatte, entwickelte daraus ein eigenes Theaterstück und machte den Stoff dem deutschen Publikum zugänglich.
Das ursprünglich vom chinesischen Autor Li-Hsing-tao stammende Drama trug den Originaltitel »Hoei-lan-ki«, der sich mit »Die Kalkbarriere« oder »Der Kalkstrich« übersetzen lässt. In der Mutterschaftsprobe muss das Kind hier einen mit Kreide gezeichneten Strich übertreten. Klabund machte daraus einen Kreis und nannte seine 1925 entstandene Bearbeitung dementsprechend »Der Kreidekreis«.
Henschkes Version wurde unter anderem am Deutschen Theater in Berlin inszeniert, wo Brecht Dramaturg war und den Stoff vermutlich für sich entdeckte.
Die chinesische Sage (14. Jh.)
In seinem mittelalterlichen Märchenspiel erzählt der chinesische Autor Li-Hsing-tao die Geschichte der ehemaligen Prostituierten Hai-tang, die sehr arm, aber herzensgut ist. Als sie schließlich den wohlhabenden Hofrat Ma heiratet, beginnt ihr trauriges Schicksal. Hai-tang ist nur die gekaufte Nebenfrau ihres Gatten und muss sich mit dessen gemeingefährlicher Hauptfrau auseinandersetzen. Diese reagiert eifersüchtig, als Hai-tang einen Sohn zur Welt bringt. Um sich das Erbe des Hofrats zu sichern, tötet die Hauptfrau ihren Mann und behauptet anschließend, das Kind sei ihr eigens. Zudem will sie ihrer Konkurrentin Hai-tang den Mord unterschieben.…
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Brechts Bearbeitungen
Der »Odenseer Kreidekreis«
Die Kreidekreisprobe griff Brecht erstmals 1927 in einem für sein Theaterstück »Mann ist Mann« geschriebenen Zwischenspiel mit dem Titel »Das Elefantenkalb« auf. Eine eingehende Beschäftigung mit dem Stoff erfolgte jedoch erst während der Zeit im skandinavischen Exil.
Auf der dänischen Insel Fünen begann Brecht in den Jahren 1938/39 mit einer Bearbeitung, die den Titel »Odenseer Kreidekreis« tragen sollte. Das Werk ging jedoch nie über ein paar Skizzen und Fragmente hinaus und blieb demnach unvollendet. Brecht wollte die Handlung in die dänische Geschichte verlagern. Grundlage sollte der dänische Volksaufstand im Jahr 1086 sein, bei dem der damalige König Knut IV. ermordet wurde. Das historische Ereignis fand im dänischen Ort Odense auf der Insel Fünen statt, was den geplanten Titel erklärt.
Brechts Notizen zum »Odenseer Kreidekreis« konzentrierten sich auf die Hintergründe des dänischen Freiheitskampfes, insbesondere auf die fragwürdige Rechtsordnung des Landes. Daneben entwickelte der Autor Charaktere, die er im »Kaukasischen Kreidekreis« wieder aufgreift. So geht es etwa um eine Magd, die das vernachlässigte Kind einer anderen aufnimmt. Sie ist vergleichbar mit der späteren Protagonistin Grusche. Darüber hinaus arbeitete Brecht an der Figur eines narrenähnlichen Richters, die er ebenfalls ins Zentrum der Handlung rückt und die an den zwiespältigen Azdak erinnert.
»Der Augsburger Kreidekreis«
„Augsburger Kreidekreis“ und „Kaukasischer Kreidekreis“
Als Brecht einige Zeit später nach Schweden übersiedelt, schreibt er dort im Jahr 1940 an einer weiteren Bearbeitung des Kreidekreisstoffes. Es handelt sich dabei um eine Novelle mit dem Titel »Der Augsburger Kreidekreis«. Das vollendete Werk wurde erstmals 1941 in der Moskauer Zeitschrift »Internationale Literatur« veröffentlicht. In Deutschland erschien die Erzählung erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den Berliner »Kalendergeschichten«.
Wie der Titel bereits verrät, verlagert Brecht die Handlung in seine Geburtsstadt Augsburg. Als historischen Hintergrund wählt er den Dreißigjährigen Krieg, der auch den Hintergrund des kurz zuvor vollendeten Dramas »Mutter Courage und ihre Kinder« (1939) bildete. Die Handlung und die Figurenkonzeption des »Augsburger Kreidekreises« nähern sich bereits stark an den »Kaukasischen Kreidekreis« an. Es fehlt jedoch die im späteren Werk hinzugefügte Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin und dem Soldaten. Auch das Vorspiel mit dem Streit zweier Kolchosen ist im »Augsburger Kreidekreis« noch nicht enthalten.
Inhalt
Augsburg wird vom katholisch-kaiserlichen Heer überfallen und der protestantische und wohlhabende Gerbereibesitzer Zingli wird erschlagen. Als dessen Gattin flieht, lässt sie aus Egoismus und Rücksichtslosigkeit den eigenen Sohn zurück. Die Magd Anna entdeckt das Kind und will es der Mutter zurückbringen. Diese verleugnet den Säugling jedoch, da er sie als Nachkomme eines Protestanten in Gefahr bringen kann.
Nach einigem inneren Ringen nimmt Anna das Kind an und flieht mit ihm zu ihrem Bruder. Dieser lebt auf dem Bauernhof seiner Frau und hat in der Ehe nicht viel zu melden. Er vermittelt Anna eine …