Titel
Die Kreidekreis-Probe
Herkunft
Brecht ist dafür bekannt, sich beim Verfassen seiner Werke an fremden Stoffen zu ‚bedienen‘. Den »kaukasischen Kreidekreis« baute er rund um eine Geschichte herum, die nicht von ihm selbst stammt (vgl. nächster Abschnitt). Dabei handelt es sich um die Kreidekreis-Probe im 6. Bild. Diese Szene spielt eine zentrale Rolle für das gesamte Stück und findet sich daher auch in dessen Titel wieder. Die Überschrift des 6. Bildes ist ebenfalls an die Kreidekreis-Probe angelehnt und lautet schlicht „Der Kreidekreis“ (S. 104).
Die Geschichte stammt ursprünglich von dem chinesischen Autor Li-Hsing-tao. Im 14. Jahrhundert verfasste er ein Singspiel mit dem Titel »Hoei-lan-ki«, übersetzt »Die Kalkbarriere«. Im Zentrum steht ein Gerichtsurteil, indem der Richter mithilfe eines Kreidestriches die wahre Mutter eines Kindes ermittelt (zum Inhalt vgl. Kapitel „Epoche“, Abschnitt „Entstehung und Quellen – Vorlagen für den Kreidekreis-Stoff“).
1925 entdeckte der deutsche Schriftsteller Alfred Henschke alias Klabund Li-Hsing-taos Märchen und entwickelte daraus ein Theaterstück. Klabund machte aus dem Kreidestrich einen Kreis und gab seiner Version den Titel »Der Kreidekreis«. Das Werk fiel Bertolt Brecht in die Hände, der die Geschichte von der Probe des Richters mit dem Kreidekreis in verschiedenen Varianten bearbeitete (vgl. Kapitel „Epoche“, Abschnitt „Entstehung und Quellen – Vorlagen für den Kreidekreis-Stoff – Klabunds »Der Kreidekreis« (1925)“).
Ein weiterer Ursprung der Richterprobe findet sich im alten Testament. Das sogenannte salomonische Urteil stammt aus dem 1. Buch der Könige (Vers 3, Absatz 16-28) und gilt als Parabel für Weisheit und Gerechtigkeit. Der ‚Mutterschaftstest‘ wird hier nicht mit einem Kreidesymbol, sondern mithilfe eines Schwertes vollzogen (vgl. Kapitel „Epoche“, Abschnitt „Entstehung und Quellen – Vorlagen für den Kreidekrei...